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Problemstellung und Ziele der Arbeit

(Leseprobe aus Hense, J. U. (2006). Selbstevaluation. Erfolgsfaktoren und Wirkungen eines Ansatzes zur selbstbestimmten Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich. Frankfurt a. M.: Peter Lang. [Kapitel 1])

Die deutsche Bildungslandschaft ist erneut in Bewegung geraten. Nach der Expansion der 1970er Jahre und einer sich anschließenden Stagnationsphase ist Bildung spätestens wieder seit den 1990er Jahren Gegenstand intensiver öffentlicher Auseinandersetzungen (Helmke, Hornstein & Terhart, 2000). Eines der Schlüsselthemen dieser Auseinandersetzung ist die Frage nach der Qualität im Bildungs- und insbesondere im Schulwesen (z. B. Fend, 1998, 2000; Organization for Economic Cooperation and Development [OECD], 1989, 1991). Eine wichtige Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Fachdiskussion spielen dabei die jährlichen OECD-Bildungsberichte (OECD, 2004) und die vielzitierten internationalen Vergleichsstudien wie TIMSS (Baumert et al., 1997), PISA (Baumert et al., 2001; Prenzel et al., 2004) oder PIRLS bzw. IGLU (Mullis, Martin, Gonzalez & Kennedy, 2003). Sie haben wiederholt Zweifel daran aufkommen lassen, ob und in welchem Maße das deutsche Bildungssystem aktuellen Ansprüchen gerecht wird.

Die Qualitätsproblematik ist dadurch verschärft worden, dass Defizite in einer Zeit sichtbar wurden, in der es zu einer verstärkten Konkurrenz zwischen verschiedenen Sektoren sozialer Dienstleistungen um öffentliche Mittel kam (Fend, 2000; Helmke et al., 2000; Kuper, 2002). Die Gleichzeitigkeit der Aufdeckung von Qualitätsdefiziten einerseits und der Verknappung von Mitteln andererseits provoziert natürlich die Frage, wie die herkömmlichen Mechanismen der Planungs- und Handlungssteuerung im Bildungssystem optimiert und (im Wortsinne) rationalisiert werden können. Eine mögliche Antwort auf diese Frage stellt Evaluation dar. Denn von Bildungsevaluation, der systematischen Untersuchung von Qualität oder Nutzen von Bildungsmaßnahmen, wird üblicherweise erwartet, dass sie objektivierte Informationen über die Leistungen und Wirkungen von Bildungsmaßnahmen erbringt und damit im Idealfall zur Verbesserung und zur Rationalisierung von Entscheidungen über diese Maßnahmen beiträgt.

Obwohl eine anfängliche Phase der Skepsis überwunden scheint und Evaluation heute in vielen Bereichen des Bildungswesens etabliert ist, sind längst nicht alle Fragen ihrer Implementation geklärt (Titze, 2002). Zu viele Möglichkeiten der konkreten Umsetzung und zu viele Anforderungs- und Ausgangssituationen in verschiedenen Teilbereichen des Bildungssystems verbieten einfache Antworten und standardisierte Rezepte. Da Evaluation gewöhnlich in bestehende Steuerungsmechanismen eingreift, kann sie systemisch gesehen nicht isoliert als einfaches Addendum der bisherigen Arbeit betrachtet werden, sondern erfordert immer auch die Berücksichtigung der Organisations- oder Systemebene und bedeutet damit eine Konfrontation mit bestehenden Organisationskulturen (Rogers & Hough, 1995).

Vor diesem Hintergrund sind die Probleme und Widerstände erklärbar, die viele Erfahrungen mit Evaluation charakterisieren, wie sie vor allem auch im schulischen Bereich nicht unüblich sind (Rolff, 1996; vgl. Taut & Brauns, 2003; Thonhauser & Patry, 1999; Zuschlag, 1987). Frühe Erfahrungen basierten oft auf einem Verständnis von Evaluation, das man als das klassische oder traditionelle bezeichnen kann. Nach diesem Verständnis besteht Evaluation in einer rigiden Anwendung der sozialwissenschaftlichen Forschungslogik mit einer strikten Trennung zwischen den Evaluatoren als bewertenden Beobachtern und den Evaluierten als passiven Evaluationsobjekten (vgl. Beywl, 1999). Dieses Evaluationsverständnis einer distanziert-externen Diagnose und Bewertung reflektiert jedoch nicht die organisationalen und systemischen Zusammenhänge, die ins Spiel kommen, wenn es um die Einbettung einer Evaluationskultur in bestehende Bildungsorganisationen und ﷓prozesse geht (vgl. Duignan, 2003; Sanders, 2002, 2003). Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt eine solche traditionelle Sichtweise von Evaluation seit geraumer Zeit als zu eng und unzureichend (vgl. Rossi, Lipsey & Freeman, 2004; Shadish, Cook & Leviton, 1991). Die Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung alleine garantieren nicht den Erfolg und Nutzen einer Evaluation, da sie in einem anderen Verwertungskontext als die gängige Grundlagenforschung agiert (Beywl & Taut, 2000; Sridharan, 2003; Stufflebeam, 2000; vgl. Kapitel 3.1.4.1). Es stellt sich somit die Frage, wie Evaluation mit bestehenden Arbeitsstrukturen so verbunden werden kann, dass sie einen tatsächlichen Nutzen im Sinne einer verbesserten Handlungssteuerung und damit einer Qualitätssteigerung erbringt.

Im Kontext dieser Problemsituation steht die Herausbildung von Evaluationsansätzen, die zusammenfassend als „Selbstevaluation" bezeichnet werden (Buhren, Killus & Müller, 1999b; Burkard, 1995; Heiner, 1988; Hense & Mandl, 2003; König, 2000; Spiegel, 1994; Stahl, 1995). Charakteristisch für Selbstevaluationen ist, dass bei ihnen die für den Evaluationsgegenstand verantwortlichen Praktiker auch für die Planung und Durchführung von Evaluationsmaßnahmen verantwortlich sind und/oder einen maßgeblichen Einfluss ausüben. Als ausschlaggebend wird dabei üblicherweise gesehen, dass die Praktiker als „owner of the process" die Steuerung der Evaluationsaktivitäten zu wesentlichen Anteilen übernehmen, was allerdings nicht impliziert, dass sie alle der zu einer Evaluation gehörenden Aktivitäten völlig unabhängig von außenstehenden Dritten durchführen (vgl. Clift, Nuttall & McCormick, 1987b).

Erste eigenständige Konzepte der Selbstevaluation bildeten sich im deutschsprachigen Raum Ende der 1980er Jahre zunächst im Bereich der sozialen Arbeit aus (Heiner, 1988). Im Rahmen von Modellversuchen der 1990er Jahre hat die Selbstevaluation dann auch Eingang in den schulischen Bereich gefunden (Burkard, 1995). Eine wichtige Rolle spielte hier die Rezeption internationaler Erfahrungen insbesondere aus Skandinavien, Großbritannien und den Niederlanden, wo bereits eine langjährige Praxis mit verschiedenen Modellen der Selbstevaluation im schulischen Bereich besteht. Auch in anderen pädagogischen Praxisfeldern wie Hochschule und Weiterbildung lassen sich zu dieser Zeit unter veränderten Vorzeichen vergleichbare Entwicklungen beobachten (Hense & Mandl, 2003). In der theoretisch und konzeptionell orientierten Diskussion über Selbstevaluation ist ein Einfluss der allgemeinen, nordamerikanisch geprägten Evaluationsdebatte erkennbar. Dort sind etwa seit Ende der 1970er Jahre verschiedene Evaluationsansätze entstanden, die der Selbstevaluation funktional und strukturell ähneln (vgl. Alkin, 2004; Stufflebeam, Madaus & Kellaghan, 2000).

Ansätze der Selbstevaluation werden also seit einigen Jahren vermehrt als Mittel der Qualitätsarbeit im Bildungswesen vertreten und in der Praxis umgesetzt. Gegenüber einer sich ausweitenden praktischen Anwendung der Selbstevaluation gibt es bei der theoretischen Fundierung und empirischen Absicherung derzeit allerdings noch deutliche Defizite.

Ein Theoriedefizit liegt insofern vor, als eine evaluationstheoretische Aufarbeitung des Konzepts der Selbstevaluation als Evaluationsansatz bisher allenfalls in Ansätzen vorliegt. Für das Vorliegen konzeptioneller Defizite, die einer wachsenden Praxisbedeutung von Selbstevaluation gegenüber stehen, lassen sich verschiedene Indikatoren nennen. Dazu gehören eine deutliche und häufig beklagte Heterogenität der als Selbstevaluation bezeichneten Ansätze, die mangelnde Anbindung an Ergebnisse der allgemeinen Evaluationsforschung und eine fehlende transdisziplinäre Perspektive in Bezug auf die Anwendungsfelder der Selbstevaluation.

Ein Empiriedefizit existiert in Bezug auf die Befundlage zu Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Selbstevaluation. Hier liegen bisher nur wenige Studien vor, die über das Erkenntnisniveau anekdotischer Fallbeschreibungen hinausgehen (vgl. Buhren, Killus & Müller, 2000). So lautet eine immer noch weitgehend unbeantwortete Frage, wie Selbstevaluation konkret umzusetzen ist und welche Varianten in welchen Settings den größten Erfolg versprechen (vgl. Rolff, 1996).

Mit der Beschreibung dieser zwei Problemfelder ist das Programm der vorliegenden Arbeit vorskizziert. Sie soll einen Beitrag dazu leisten, in beiden Bereichen den bestehenden Defiziten entgegenzuwirken und verfolgt daher zwei Hauptziele: Erstens sollen Praxis und Konzepte der Selbstevaluation im Kontext allgemeiner Evaluationstheorien theoretisch rekonstruiert werden. Zweitens sollen die für ihre Wirkung verantwortlichen Erfolgsfaktoren empirisch untersucht werden.

Kapitel 2 stellt zunächst Hintergründe und Trends der aktuellen Qualitätsdebatte im Bildungswesen dar und liefert damit den allgemeinen Kontext, in dem aktuelle Entwicklungen im Bereich der Evaluation und Selbstevaluation zu diskutieren sind.

Kapitel 3 geht auf das Feld der allgemeinen Evaluation und ihrer historischen Entwicklung im Bildungswesen ein. Ausgehend von einer Diskussion möglicher Funktionen und Zielsetzungen von Evaluation werden zentralen Dimensionen der Variabilität von Evaluation bestimmt, anhand derer sich Evaluationsansätze kontrastierend vergleichen lassen. Eine Auseinandersetzung mit verschiedenen krisenhaften Entwicklungen und häufig geäußerten Kritikpunkten an der traditionellen Evaluationspraxis steht am Ende des Kapitels.

Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird in Kapitel 4 auf Ansätze der Selbstevaluation und deren Entwicklung eingegangen. Unter Bezug auf die Umsetzungsdimensionen allgemeiner Evaluation werden sie auf ihre Funktionen und Variabilität hin analysiert. Die Darstellung erfolgt zwar transdisziplinär, legt aber ein besonderes Augenmerk auf den schulischen Bereich. Abschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit möglichen Kritikpunkten an der Selbstevaluation.

Kapitel 5 gibt eine Übersicht über den empirischen Forschungsstand zu Wirkungen und Erfolgsfaktoren der Selbstevaluation. Damit sind jene Aspekte der Selbstevaluation angesprochen, die im Kontext der anschließenden Untersuchung betrachtet werden: Was sind die Wirkungen von Selbstevaluation und welche Einflussfaktoren sind für deren Zustandekommen ausschlaggebend' Auf Basis einer Synthese des dargestellten Forschungsstands wird ein Rahmenmodell erfolgreicher Selbstevaluation entwickelt, das den Analyserahmen für den empirischen Teil der Arbeit bildet.

Kapitel 6 beschreibt den Untersuchungsgegenstand der empirischen Studie. Sie wurde im Kontext der Selbstevaluation im Modellversuchsprogramm SEMIK („Systematische Einbeziehung von Medien, Informations- und Kommunikationstechnologien in Lehr- und Lernprozesse") durchgeführt.

Kapitel 7 gibt die Fragestellungen der Untersuchung wieder. Sie gehen von der Hauptfragestellung aus, welchen Beitrag unterschiedliche Erfolgsfaktoren der Selbstevaluation zur Erklärung ihrer Wirkungen auf verschiedenen Ebenen leisten können, und werden auf das zuvor entwickelte Rahmenmodell bezogen. Hauptziel der Studie ist es, Hinweise zur Optimierung des Ansatzes bzw. seiner Umsetzung in der Praxis zu erhalten.

Kapitel 8 stellt die methodische Vorgehensweise dar, Kapitel 9 enthält die Ergebnisse der Untersuchung und diskutiert sie in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen.

Kapitel 10 enthält eine zusammenfassende Diskussion der Arbeit und zieht Schlussfolgerungen im Hinblick auf weitere theoretische, methodologische und praktische Entwicklungen im Bereich der Selbstevaluation.

(Leseprobe aus Hense, J. U. (2006). Selbstevaluation. Erfolgsfaktoren und Wirkungen eines Ansatzes zur selbstbestimmten Qualitätsentwicklung im schulischen Bereich. Frankfurt a. M.: Peter Lang. [Kapitel 1])

Letzte Änderung: 25 Aug 2006 - 12:02
 
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